Handy(nutzungs)verbote als pädagogische Gratwanderung zwischen Vertrauen und Schutz

Die Debatte um Handyverbote an Schulen wird häufig durch sehr gegensätzliche Positionen geprägt. Während Axel Krommer in seinem Beitrag „Wie man mit Kant gegen Handyverbote argumentiert“ (2025) anhand von Kants Schrift Über Pädagogik (1803) hervorhebt, dass umfassende Verbote Ausdruck eines Pädagogikverständnisses seien, das „minimales Vertrauen“ und „maximale Kontrolle“ favorisiert, plädieren andere Akteurinnen und Akteure – darunter viele Lehrkräfte, Eltern und Medienexperten (und auch ich) – für ein stärkeres Augenmerkt auf den Schutz Heranwachsender. Im Zentrum dieser Argumentation steht häufig die Sorge um psychische Gesundheit, soziale Kompetenzen sowie den Schutz der Privatsphäre von Schülerinnen und Schülern.
- Kants Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“
Krommer bezieht sich auf Kants Frage, „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ und interpretiert Handyverbote als eine radikale Form dieses „Zwanges“. Bei Kant (1784) – vor allem in seinem berühmten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? – findet sich zudem die Formulierung der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Gemeint ist damit die Unfähigkeit oder der Unwille, sich des eigenen Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen. Übertragen auf den schulischen Kontext könnte argumentiert werden, dass ein rigoroses Handyverbot den Lernenden eben diese Chance zur selbstbestimmten Mediennutzung vorenthält; sie wären nicht gezwungen, sich konstruktiv mit digitalen Angeboten auseinanderzusetzen oder Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen.
Allerdings lässt sich das Kantische Konzept auch anders herum lesen: Ist die ‚Unmündigkeit‘ nicht teilweise auch bedingt durch Überforderungssituationen, die moderne digitale Medien für Kinder und Jugendliche darstellen können?
Vielleicht hilft hier ein Vergleich? In Harry Potter und die Kammer des Schreckens (J.K. Rowling) gerät die Figur Ginny Weasley an ein vermeintlich harmloses Tagebuch, das sie vertrauensvoll mit ihren Gedanken füllt. Was sie zunächst nicht ahnt: Dieses Buch ist in Wirklichkeit ein sogenannter „Horcrux“ – ein mit einem Teil von Lord Voldemorts Seele aufgeladenes, magisches Objekt. Sobald Ginny im Tagebuch schreibt, tritt sie in Kontakt mit Voldemorts Bewusstsein, das sich über die Seiten langsam Zugriff auf ihre Wahrnehmung und Handlungen verschafft.
Der scheinbar ungefährliche Akt des Tagebuchschreibens verwandelt sich dadurch in ein Instrument subtiler Fremdbestimmung und Manipulation. Ginny erkennt nicht, dass sie mit einer fremden Macht kommuniziert, die ihr Denken beeinflusst und sie zu Taten drängt, die sie aus eigenem Antrieb niemals begehen würde. Ihre „Unmündigkeit“ entsteht hierbei nicht aus mangelndem Intellekt oder Willen, sondern weil die manipulativen Kräfte des Tagebuchs für sie unsichtbar bleiben. Genau dieser Mechanismus kann als Vergleich für die oft nur schwer durchschaubaren Manipulationsstrukturen digitaler Medien, Online-Plattformen oder Algorithmen herangezogen werden: Wie Ginny bei Voldemorts Tagebuch sind Kinder und Jugendliche – ohne ausreichende Aufklärung (und eigentlich auch bei ausreichender Aufklärung) und Schutzmaßnahmen – den unsichtbaren Mechanismen externer Akteure ausgeliefert, die ihre (Medien-)Handlungen unbemerkt steuern und beeinflussen können. - Vertrauen in Zeiten der Digitalität
Krommer hebt hervor, dass schulweite Verbote den Schieberegler, der eigentlich frei justierbar zwischen „Vertrauen und Freiheit“ auf der einen und „Kontrolle und Struktur“ auf der anderen Seite liegen sollte, einseitig nach „Kontrolle“ verschieben. Er argumentiert, dass eine Atmosphäre der Freiheit und des Vertrauens die notwendige Bedingung für gelingendes Lernen sei, insbesondere für Lernen in einer „Kultur der Digitalität“. Unterricht, so Krommer, könne nur dann innovationsorientiert gestaltet werden, wenn Lehrende und Lernende gemeinsam digitale Kompetenzen entwickeln und in konstruktiver Weise einsetzen dürfen.
Dagegen betonen Befürworter gewisser Restriktionen in der Handynutzung, dass das Vertrauen in Heranwachsende nicht unbedingt mangelhaft ist, vielmehr aber das „Misstrauen“ gegenüber externen Akteuren steigt. Entsprechend Ihres Vergleichs mit Ginny Weasley und dem Tagebuch Voldemorts lässt sich argumentieren, dass nicht das Kind bzw. der oder die Jugendliche selbst das Problem sei, sondern die oft unsichtbaren Gefahren, die durch manipulative Mechanismen von Social-Media-Plattformen und Online-Diensten entstehen. So wie Ginny das Schreiben in ein scheinbar harmloses Tagebuch nicht als Gefahrenquelle erkennt, so können Kinder und Jugendliche die weitreichenden Konsequenzen und Manipulationsmechanismen (beispielsweise über personalisierte Feeds, gezielte Werbestrategien oder zweifelhafte Inhalte) nicht vollständig abschätzen. - Didaktische Potenziale und Grenzen
In Krommers Argumentation wird ferner betont, dass schuladministrierte Geräte, die nur unter strikter Kontrolle genutzt werden dürfen, nicht automatisch zu echter Medienkompetenz führen. Digitale Kompetenz und Medienmündigkeit entstünden vor allem dann, wenn Lernende ausreichend Gelegenheit bekommen, sich im geschützten Rahmen – aber eigenverantwortlich – mit digitalen Technologien auseinanderzusetzen. Diese Sicht wird durch Forschungsergebnisse gestützt, die zeigen, dass reines „Command and Control“ (vgl. Kounin 1970; Praetorius et al. 2018) nicht die eigentliche Selbsttätigkeit oder Kreativität fördert.
Dem kann man jedoch entgegensetzen, dass – ähnlich wie bei einem heranwachsenden Menschen, der erst allmählich in die Rolle einer autonomen Person hineinwächst – ein gewisser Grad an Kontrolle oder Anleitung zum Schutz notwendig ist. Gerade in jüngeren Jahrgangsstufen oder bei vulnerablen Schülerinnen und Schülern kann ein generelles Handyverbot oder zumindest eine erhebliche Einschränkung der Nutzungszeiten sinnvoll sein, um Überforderungssituationen und gesundheitliche (z. B. exzessive Bildschirmnutzung) wie auch psychische Risiken (Mobbing, permanente Erreichbarkeit, Abhängigkeit von Likes und Feedback) zu begrenzen. - Praxisorientierte Schlussfolgerung: Ein stufenweiser Ansatz
- Differenzierung nach Altersstufen: Während in den unteren Klassenstufen strengere Regelungen (zeitliche oder räumliche Handyverbote) sinnvoll sein können, um Kinder vor Risiken zu bewahren, könnte man in den höheren Stufen mehr Freiräume gewähren, um den verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien zu üben.
- Vertrauen vs. Kontrolle ausbalancieren: In Anlehnung an Kant lässt sich argumentieren, dass Freiheit in einem pädagogischen Kontext nicht ohne eine verantwortungsvolle Struktur auskommt. Insbesondere in einer digitalen Umgebung, die von manipulativen Mechanismen und Überangeboten geprägt ist, kann ein gewisser Grad an Kontrolle notwendig sein, um Schülerinnen und Schüler vor Überforderung zu schützen. Dennoch sollte diese Kontrolle nicht zum Selbstzweck werden, sondern klar darauf abzielen, die Heranwachsenden schrittweise in die Lage zu versetzen, eigene medienkritische Kompetenzen zu entwickeln. Ein vollständiges und dauerhaftes Verbot „um des Verbots willen“ gewährleistet zwar kurzfristige Disziplin, birgt jedoch die Gefahr, langfristig die Entwicklung kritischen Urteilsvermögens zu behindern. Der ideale Weg liegt daher in einer Balance, die anfänglich Sicherheit durch Regeln bietet und zugleich genügend Raum zur eigenverantwortlichen Nutzung digitaler Medien eröffnet, sobald die Lernenden dazu befähigt sind.
- Digital Literacy als Unterrichtsziel: Zum Schutz vor externer Manipulation sind Aufklärungsarbeit und medienpädagogische Projekte entscheidend. Wie im Tagebuch-Vergleich sollte „Schreiben“ (oder Kommunizieren) an sich nicht tabuisiert werden. Vielmehr ist es notwendig, Kindern und Jugendlichen die Mechanismen hinter dem digitalen „Tagebuch“ (Social Media, Apps, Algorithmen) verständlich zu machen und ihnen resiliente Strategien an die Hand zu geben.
- Klare Regeln und pädagogische Begleitung: Auch dort, wo Freiräume gegeben werden, bleiben Regeln sinnvoll. So könnten beispielsweise geregelte Offline-Zeiten etabliert werden, die tägliche Momente des analogen Miteinanders gewährleisten. Gleichzeitig können Lehrkräfte die digitale Arbeit konstruktiv begleiten und Konflikte oder Probleme zeitnah thematisieren.
- Einbeziehung der Eltern: Da das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen wesentlich auch im Elternhaus geprägt wird, ist eine enge Kooperation zwischen Schule und Familie unerlässlich. Eltern sollten über potenzielle Risiken wie Manipulationsmechanismen in sozialen Netzwerken und Onlinediensten informiert und in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Gemeinsame Leitlinien, die sowohl in der Schule als auch zu Hause gelten, unterstützen eine kohärente Erziehungshaltung und stärken das Bewusstsein aller Beteiligten für einen reflektierten Umgang mit digitalen Medien. So kann verhindert werden, dass Schülerinnen und Schüler widersprüchliche Signale erhalten oder sich überfordert fühlen.
- Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Axel Krommers Argumentation gegen umfassende Handyverbote zu Recht die Bedeutung von Vertrauen, Freiheit und selbstbestimmtem Lernen in der digitalen Welt betont. Gleichwohl kann man – auch im Sinne Kants – davor warnen, Schülerinnen und Schüler einem (digitalen) Raum völlig schutzlos zu überlassen. Ihr Vergleich mit Ginny Weasley, die das (scheinbar harmlose) Tagebuch nicht durchschaut und unbewusst manipuliert wird, macht deutlich, dass nicht nur das Vertrauen in die Lernenden, sondern auch das Misstrauen gegenüber externen Akteuren (Unternehmen, Staat, etc.) und deren Absichten begründet sein kann.
Eine sinnvolle pädagogische Praxis wird daher weder in einem kompletten Handyverbot noch in völliger Nutzungsoffenheit liegen. Vielmehr ist ein stufenweiser Ansatz notwendig, der abhängig vom Alter und der Reife der Lernenden dosierte Verbote, Regeln und Kontrollen vorsieht, gleichzeitig aber ausreichend Freiheit und vertrauensvolle Räume zur medienpädagogischen Bildung bereithält. Nur so können Schülerinnen und Schüler lernen, im Sinne Kants ihre „Unmündigkeit“ nachhaltig abzulegen und digitale Selbstbestimmung zu entwickeln.
Literatur (Auswahl)
• Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft.
• Kant, Immanuel (1803): Über Pädagogik. Königsberg: Friedrich Nicolovius.
• Kounin, Jacob S. (1970): Observing and delineating technique of managing behavior in classrooms. Journal of Research and Development in Education, 4 (1), 62–67.
• Krommer, Axel (2025): Wie man mit Kant gegen Handyverbote argumentiert. Online unter: axelkrommer.com
• Praetorius, Anna-Katharina / Klieme, Eckhard / Herbert, Benjamin / Pinger, Petra (2018): Generic dimensions of teaching quality: the German framework of Three Basic Dimensions. In: ZDM 50, S. 407–426.
• Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (2022): Digitalisierung im Bildungssystem: Handlungsempfehlungen von der Kita bis zur Hochschule.
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