In den Zeiten, in denen wir noch nicht komplett mit dem Smartphone verwachsen waren, galten grundsätzlich andere Kommunikationsformen als „normal“. Man traf sich zum Gespräch, man telefonierte miteinander – schrieb sich gar einen Brief oder vielleicht schon eine E-Mail. Man las die Post oder Nachricht, antwortete darauf, man traf sich und verabschiedete sich voneinander, man begann und beendete das Telefonat. Bis zum nächsten Mal. All diesen „prähistorischen“ Umgangsformen war gemein, dass das Gespräch einen Anfang und ein Ende hatte. Wenn sich das hier Beschriebene wie die Beobachtung eines Archäologen anhört, wird die ungeheure Revolution erkennbar, die in den vergangenen Jahren unser Sozialleben durcheinandergewirbelt hat. Ein
„Normal“ gibt es in der Kommunikation nicht mehr. Ein Blick in den Alltag:
Ein Jugendlicher, der morgens – wie könnte es anders sein – als erstes auf sein Handy schaut, wird schnell von 100 ungelesenen Nachrichten begrüßt. Und das jeden Morgen. Dabei sind 100 neue Nachrichten noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Fragen Sie Ihre Kinder oder Schüler. 100 neue Nachrichten, mit denen man als Jugendlicher morgens aufwacht, die gelesen werden müssen, die man einordnen und auf die, wie man meint, reagiert werden muss. Sonst ist man raus aus dieser Form der Kommunikation. So zumindest ist das Gefühl vieler Jugendlicher, deren Alltagshandeln stark auf das Smartphone konzentriert ist. Schnell noch mal checken, was es Neues gibt, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Der Blogger und Journalist Sascha Lobo spricht dann auch in einer seiner Spiegel-Online-Kolumne von „digitale[r] Ungeduld“. (Lobo 2011) Reaktionen oder Antworten müssen praktisch unmittelbar gesendet werden. Ein Begriff, der diese neue Nervosität beschreiben soll, lautet „Sofortness“. Mit dieser Wortschöpfung versucht der österreichische Journalist und Schriftsteller Peter Glaser die beschleunigte permanente Erwartungshaltung zu definieren. Und die betrifft neben Dienstleistungen und Konsumartikeln vor allem die eigentlich sehr persönliche Form des Gesprächs.
Die oben beschriebene Pause zwischen Gespräch und Gespräch ist also Geschichte. „Eine empfundene Pflicht“ zum permanenten Reagieren sei das, so die Autoren von klicksafe.de, einer EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz. Das Pflichtgefühl, „möglichst schnell auf Nachrichten antworten zu müssen, führt schließlich dazu, dass das Smartphone ständig genutzt wird“. (Rack/Sauer 2015) Und digitale Ungeduld kann schließlich das ganze soziale Leben bestimmen, sich zu einer permanenten
Hektik auswachsen. „Geraten Nutzer in dieses Hamsterrad, entstehen ein ständiges Gefühl der Unruhe und die Angst, etwas zu verpassen, wenn der Blick nicht immer wieder auf den Smartphone-Bildschirm wandert.“ (ebda.)
Wer sich dieser Nachrichtenflut entzieht, bleibt möglicherweise allein zurück. Das sorgt für einen enormen sozialen Druck. Wer ist schon stark, gefestigt genug, sich dem zumindest zeitweilig zu entziehen? Wenn alle Freunde, alle Mitschüler, Teil dieses dauerhaften Gesprächs sind, will man selbst der Einzige sein, der hier ausgeschlossen bleibt? Wohl kaum.
Das prominente Schlagwort für das hier umrissene Phänomen lautet „POPC“: „Permanently online, permanently connected“. Immer online, immer verbunden. Das Letzte, was man vor dem Schlafengehen macht: Ein Blick aufs Smartphone. Und das Erste am Morgen, direkt nach dem Aufwachen? Raten Sie mal!
Es lohnt sich aber, nicht nur auf die Jugendlichen zu schauen, sondern auch die eigenen Gewohnheiten in den Blick zu nehmen. Niemand sollte so tun, als sei all dies nur eine seltsame Ausformung von Jugendkultur. Unser Privatleben, unser beruflicher Alltag ist natürlich ebenfalls von diesem grundlegenden Wandel betroffen. Mittlerweile gehört es für viele zum guten Ton, ständig erreichbar zu sein und diese Erreichbarkeit auch von anderen einzufordern. Also schickt man zunehmend Kurznachrichten oder E-Mails von überall her: Wenn man Vorträgen lauscht, in den
kurzen Pausen während der Arbeit, sogar aus dem Restaurant. Und während sich bei über Dreißigjährigen in diesem Zusammenhang – etwa beim Restaurantbesuch – noch Fragen von Höflichkeit und Etikette stellen, kann man beobachten, dass für nur einige Jahre jüngere Gäste diese Formfragen keine Rolle mehr spielen. Schauen Sie sich bei solchen Gelegenheiten um. Das Smartphone ist nicht unhöflich, sondern mittendrin und dabei. Oftmals liegt es direkt auf dem Tisch, ständig griffbereit. Es ist der selbstverständliche, regelmäßig aufleuchtende Begleiter dieser neuen
Normalität.
Wer allerdings immer online ist und fortwährend mit zahlreichen Informationen zugeschüttet wird, der läuft Gefahr, in dieser unterschiedslosen Datenflut zu versinken. Zwischen sozialen Netzwerken, WhatsApp und sonstigen digitalen Diensten droht man, sich im digitalen Leben zu verlieren. Wer gar nicht mehr abschalten kann und für wen die Smartphone-Kommunikation nie endet, der erlebt in manchen Fällen enormen Stress.
Das digitale Geschwisterkind von „POPC“ heißt „FOMO“: Fear of missing out. Die Angst, etwas zu verpassen, die entscheidende Nachricht innerhalb der Datenflut nicht bemerkt zu haben, nicht darauf reagiert zu haben. „POPC“ und „FOMO“ kann man kaum getrennt voneinander betrachten. Sie gehören notwendigerweise zusammen. Viele Jugendliche verbringen daher mittlerweile einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich in dieser schönen neuen Digitalwelt als Nachrichtenfilter zu betätigen. Die Chance, jederzeit auf fast alles zugreifen zu können, bringt auch die Angst des Verpassens mit sich. Wer unter „FOMO“ leidet, erlebt die neuen Kommunikationsformen als Arbeit und nicht mehr als Möglichkeit. Diese hässliche Seite der neuen Technologien verbaut uns den Weg, die Chancen gezielt zu nutzen, die sich durch flexible, schnelle und mobile Kommunikationsformen ergeben.
Und diese hässliche Seite kann ganz konkrete, sehr unangenehme Folgen haben. Besteht keinerlei Trennung mehr zwischen beruflichen und privaten, zwischenwichtigen und unwichtigen Nachrichten, wird also alles unterschiedslos über das Smartphone transportiert, überfordert das auch die „Digital Natives“ und begleitet viele davon bis ins Bett. Eine Pilotumfrage unter amerikanischen Kindern hat
ergeben, dass „die Hälfte mit dem Smartphone am Bett [schläft]. Die Auswirkungen sind deutlich. Sie schlafen im Schnitt 20 Minuten weniger und fühlen sich am Morgen weniger erholt als Kinder und Jugendliche, deren Smartphone über Nacht nicht am Bett liegt“. (ebda.) Das Smartphone als Schlafkiller ist also eine ernstzunehmende Gefahr. „Die LED-Bildschirme von Smartphones, Tablets oder Laptops strahlen besonders viel Licht mit blauen Wellenlängen aus, die von uns als weiß und vom
Körper als besonders hell wahrgenommen werden. Dieses blaue Licht […] hemmt den Aufbau von Melatonin [Hormon, das den Tag-Nacht-Rhythmus beim Menschen steuert]. Die Folge: Wir können abends nicht gut einschlafen.“ (ebda.)
„Was bedeutet es für innere Einkehr und Zuwendung nach außen, wenn online der Normalzustand wird und offline eine Art Notsituation (Funkloch! Akkuversagen!).“ (Vorderer/Klimmt 2016) Diese Frage der ZEIT-Autoren und Kommunikationswissenschaftler Peter Vorderer und Christoph Klimmt ist offensichtlich so klar beantwortet,dass an ihrem Ende nicht einmal mehr ein Fragezeichen steht. Funkloch! Akkuversagen! Was passiert mit Menschen, deren Handy nicht permanent bereit liegt? Wer bei Schülern schon einmal die alles umfassende Panik erlebt hat, wenn das Smartphonegerade verlegt ist, wer je Zeuge des entwürdigenden Schauspiels gewesen ist, das erwachsene Menschen aufführen, wenn „kein Signal“ da ist, der beobachtet: Bei Vielen hat das Mobiltelefon mit all seinen Möglichkeiten längst die Kontrolle über das ganze Leben übernommen.
Gerade deshalb muss man nach Wegen aus diesem digitalen Dilemma suchen. Komplette Abstinenz bei Jugendlichen ist auch hier natürlich keine Lösung. Die meisten Erwachsenen müssten wohl selbst feststellen, dass sie so ihre Schwierigkeiten mit einer Komplettabkoppellung von der digitalen Außenwelt hätten. Das sollten Eltern im Gespräch mit ihren Kindern deutlich machen: Wenn man nämlich selbst eingesteht, dass man oft Angst hat, etwas Wichtiges zu verpassen, dann fühlen sich
auch Jugendliche ernst genommen und man kann über dieses Problem eine wirkliche Unterhaltung auf Augenhöhe führen. Dann wird nachvollziehbar, dass auch Eltern oder Lehrer grundsätzlich Verständnis für die Gefahren von „POPC“ und „FOMO“ zeigen. Denn niemand, weder Erwachsener noch Heranwachsender, möchte seine Stellung im jeweiligen sozialen Umfeld verlieren. Und dieses Umfeld kommuniziert nun einmal zunehmend digital. Ob diese neue Form des Sprechens für den Einzelnen eher als Chance oder als Bedrohung wahrgenommen wird, ließe sich bei einem solchen Gespräch klären. „Fühlst du dich von den permanenten Posts gestresst?“ Wenn die Antwort auf diese Frage „Ja“ ist, dann ist es sinnvoll, gemeinsam zu überlegen, was man dagegen tun kann.
Wenn eine solche Überforderung durch permanente WhatsApp-Nachrichten oder dauernde Status-Aktualisierungen in sozialen Netzwerken besteht, könnten Eltern und Kinder auf dieser Basis gemeinsame Formen oder Regeln etablieren. Durch diese soll verhindert werden, dass Kinder durch die digitale Kommunikation das Gespräch im echten Leben aus den Augen verlieren. Letztlich kommt es darauf an, den Datenstrom ab und an und bei bestimmten Gelegenheiten zu unterbrechen, etwa bei gemeinsamen Mahlzeiten, oder wenn man abends zusammensitzt. Und wenn dem Smartphone tagsüber schon eine so umfassende Bedeutung zukommt, dann sollte man nachts komplett darauf verzichten. Der Gewinn solcher Regulierungen besteht auch darin, zu erkennen, wie viel Zeit der digitale Begleiter im Alltag ohnehin schon einnimmt.
Solche Vereinbarungen können natürlich nur dann funktionieren, wenn sich auch die Eltern daran halten. Das ist für viele sicherlich eine ernsthafte Herausforderung, denn „POPC“ und „FOMO“ sind keine Phänomene, die Jugendliche exklusiv betreffen. Daher kann eine oben vorgeschlagene Reduzierung auch nur überzeugend und erfolgreich sein, wenn sich alle glaubwürdig mit ihrem eigenen Medienverhalten auseinandersetzen. Die Regeln sollten also für Eltern wie ihre Kinder gleichermaßen gelten, und auch von den Erwachsenen konsequent umgesetzt werden. Vor allem
muss man selbst also ein überzeugendes Vorbild sein. Nur so kann man letztlich
auch den Jugendlichen entsprechendes Selbstbewusstsein vermitteln: Du musst nicht jede Nachricht lesen, du musst nicht dauernd alles von allen kommentieren, du kannst Teil dieser Welt sein – und ihr dennoch nicht gehören. Bleibe eigenständig. Wähle bewusst aus, was wirklich für dich wichtig ist – und wann es für dich wichtig ist.
Fazit:
Die Tatsache, dass das Smartphone in den vergangenen Jahren zu einem ständigen Begleiter in allen Berufs- und Alltagssituationen geworden ist, kann zu einer problematischen Blickverengung der Nutzer führen. Gerade Jugendliche sind hier oft einem besonderen Druck ausgesetzt. Jeder ist grundsätzlich ständig erreichbar, und wer dann auf jegliche Kommunikation in sozialen Netzwerken oder Apps
fokussiert ist, droht Gefahr zu laufen, das wirkliche Gegenüber aus den Augen zu verlieren und sich der ungeheuren Flut digitaler Nachrichten aus sozialen Netzwerken oder Messenger-Diensten auszuliefern. Diese Phänomene werden als „POPC“ (Permanently online, permanently connected) bzw. „FOMO“ (Fear of missing out) bezeichnet. Wenn das digitale Gespräch gar keine Pausen mehr
kennt, kann das sogar die Gesundheit beeinträchtigen (zum Beispiel Schlafmangel). Zentral ist deshalb vor allem: Selbstbewusst entscheiden, was wichtig und was weniger wichtig ist, und Ruhephasen etablieren, in denen das Smartphone keine Rolle spielt.
Weitere Artikel rund um die Digital Natives finden Sie im Wegweiser für Eltern und Lehrer.
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